Berichte aus der Schule
Erfahrungsberichte
(verantwortlich für den Inhalt: Dr. Heinz-Dieter Basler)
Der Bericht bezieht sich auf eine Gesamtschule, in der nach Aussagen der Schulleitung Kinder aus über 40 Nationen beschult werden. Obwohl diese kulturelle Vielfalt den Hintergrund der Arbeit bildet, stehen solche Streitigkeiten zwischen den Kindern im Vordergrund, die an jeder Schule vorkommen können. Es geht häufig um Beziehungen untereinander, um den Platz in der zu erkämpfenden Rangordnung und um das Gefühl, geachtet zu werden. Wir möchten ein Beispiel aus unserer Arbeit schildern. Alle Eigennamen wurden durch andere ersetzt.
1. Gespräch
Sila und Tabea (beide w, 6. Klasse) beschweren sich darüber, dass sie von Lucy (8. Klasse) per WhatsApp und auch von Angesicht zu Angesicht bedroht werden. Lucy hat ihnen Schläge angedroht und auch angekündigt, sie werde sie "umbringen". Beide haben Angst vor Lucy, die als sehr aggressiv und durchsetzungsfähig geschildert wird.
Lucy und Sila waren bis vor zwei Jahren Freundinnen. Der Bruch ist entstanden, als Lucy angefangen hat zu rauchen und Sila ebenfalls dazu animiert hat. Die Eltern von Sila haben davon erfahren und ihr danach jeden Umgang mit Lucy verboten.
Der jüngste Streit ist eskaliert, weil Lara, eine Freundin von Lucy, von sich selbst Bilder in aufreizender Pose über WhatsApp an einen Freund und an Sila mit der Auflage verschickt hat, das als Geheimnis zu betrachten. Sila hat vor dem Löschen der Bilder diese allerdings weiter verschickt, was von Lara und Lucy als Misstrauensbruch und Verrat erlebt und mit den Drohungen beantwortet wurde, die jetzt Anlass für die Konsultation wurden. Diese Bilder "gehen inzwischen in der ganzen Schule herum".
Wir schlugen den Beiden vor, Lucy und eine Freundin dazu zu holen, um das Problem gemeinsam zu besprechen. Sie baten uns allerdings, das zu übernehmen, da sie sich von Lucy fürchteten. Wir trafen Lucy an und vereinbarten mit ihr nachfolgend einen Gesprächstermin.
Während Sila und Tabea auf unsere Rückkehr warteten, erzählten sie dem Sozialarbeiter, den sie auf dem Flur trafen, von dem Vorfall. Dieser führte mit ihnen ebenfalls ein Gespräch und informierte uns darüber, dass er das Handy von Lara mit den anstößigen Bildern zu deren Selbstschutz einziehen und weitere Informationen bei der Polizei zu der Angelegenheit einholen werde. Wir verzichteten daher zunächst darauf, mit allen Beteiligten ein Gespräch zu führen, um zunächst die Sichtweise von Lucy zu erfahren.
Lucy erschien zu dem vereinbaren Termin zusammen mit Lara und einer Cousine. So erfuhren wir, dass Lara inzwischen das Smartphone abgenommen worden war.
Lucy machte einen eher deprimierten Eindruck und sprach resigniert davon, dass sie ihre Aggressionen nicht beherrschen könne. Auch wenn sie es anders versuche, müsse sie immer wieder aggressiv reagieren. Sie bestätigte, die Freundin von Sila gewesen zu sein und sprach ihr Bedauern darüber aus, dass diese Freundschaft in die Brüche gegangen sei. Sie würde am liebsten immer noch mit Sila befreundet sein, war aber sehr ärgerlich über das Verschicken der Bilder und den damit begangenen Vertrauensbruch geworden. Auf diesem Hintergrund sei ihre Reaktion zu verstehen.
Vereinbarung: Wir vereinbarten, dass Lucy am kommenden Sprechtag nach der zweiten Pause uns erneut besuchen sollte, um die Auseinandersetzung mit Sila zu klären. In der Zwischenzeit solle jede weitere Eskalation vermieden und keinerlei Beschimpfung und Bedrohung ausgesprochen werden. Sila wurde von uns anschließend in der Klasse aufgesucht und darüber informiert. Sie gelobte ebenfalls, bis dahin alles zu unterlassen, was zu einer Verschlechterung der Lage führen könne und an dem vereinbarten Gespräch teilzunehmen.
2. Gespräch
Zeynep (w, 5) und Wiam (w, 5) besuchen uns, weil Zeynep möchte, dass Martyna (w, 5) damit aufhört, sich von ihr bedroht zu fühlen und ängstlich jeden Kontakt mit ihr vermeidet. Als Auslöser für dieses Verhalten wird eine Situation geschildert, in der Zeynep Martyna darauf ansprach, dass sie (Martyna) in einen Jungen aus der Klasse verliebt sei. Zeitlich unmittelbar danach hätten einige aus der Klasse zu Martyna gesagt, Zeynep wolle sie verhauen, worauf Martyna in Tränen ausgebrochen sei.
Zeynep versicherte, sie wolle Martyna überhaupt nichts antun, hätte ihr das auch schon wiederholt gesagt, aber Martyna ließe nicht mit sich reden und vermeide jeden Kontakt, so dass sie nicht an Martyna herankäme. Inzwischen mischten sich viele aus der Klasse ein und wiederholten die Aussage, Zeynep drohe Schläge an, was zu einer immer größeren Zurückhaltung bei Martyna geführt hätte.
Wir schlugen vor, Martyna und eine ihrer Freundinnen dazu zu holen, um gemeinsam über die Angelegenheit zu sprechen. Zeynep und Wiam meinten zunächst, Martyna werde nicht mitkommen, kamen dann doch aber kurze Zeit später mit Martyna und Esra (ebenfalls w, 5) zurück.
Martyna lehnte es ab, den Mantel auszuziehen, hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen und schaute uns nicht an. Zeynep trug ihren Wunsch vor, sich mit Martyna auszusöhnen und beteuerte, sie werde sie nicht schlagen. Als Martyna mit Unterstützung von Esra schließlich redete, berichtete sie davon, alle in der Klasse wüssten ja, das Zeynap ihr Böses wolle. Sie traute den Aussagen von Zeynep ganz offensichtlich nicht. Auf die Frage, was sie denn brauche, damit sie Zeynep Glauben schenken könne, zeigte sie sich ratlos.
Esra schlug daraufhin Martyna vor, sie solle den Kindern, die sie von der Bösartigkeit Zeyneps überzeugen wollten, entgegnen, dass sie nicht die Wahrheit sagten. Zeynep wollte ebenfalls den Gerüchten entgegentreten und diejenigen zur Rede stellen, die diese Unwahrheiten über sie verbreiteten. Martyna willigte schließlich ein, eine Woche lang das vorgeschlagene Verhalten zu erproben, um in der kommenden Woche erneut mit Zeynep zur Mediation zu kommen, um zu berichten, ob sich dadurch ihr Zustand verbessert habe.
Als vertrauensbildende Maßnahme schlugen wir vor, beide sollten sich die Hand geben und sich in die Augen sehen. Das wurde von Zeynep sehr spontan aufgegriffen, während Martyna nur zögerlich und widerstrebend auf Zeynep zuging. Es wurde deutlich, dass sie immer noch kein Vertrauen in Zeynep gefasst hatte.
Vereinbarung: Zeynep und Martyna werden das verabredete Verhalten erproben und in der kommenden Woche erneut erscheinen, um über ihre Erfahrungen der Woche zu berichten. (Es wird aber sicherlich nötig sein, Beide an diese Übereinkunft vorher zu erinnern und sie in der Klasse deswegen aufzusuchen. Sinnvoll wäre es auch, mit Martyna ein Einzelgespräch zu führen, um ihren Ängsten gegenüber Zeynep auf den Grund zu gehen.)
3. Gespräch
Vor der Tür unseres Mediationsraumes drängten sich acht Mädchen, von denen zwei als Sprecherinnen bestimmt wurden, nämlich Eileen und Jytte. Die anderen bildeten hinter ihnen einen Halbkreis. Sie zeichneten das Bild eines eskalierenden Streites in der Pause auf dem Schulhof, in das immer mehr jeweilige Freundinnen hineingezogen wurden. Nach gegenseitigen Beschimpfungen und Beleidigungen aller Beteiligten hatten sich schließlich Eileen und Jytte in die Haare der jeweils anderen verkeilt und heftig und schmerzhaft daran gezogen. Von der herbeieilenden Aufsicht wurden sie getrennt und zu uns geschickt.
Es wurde schließlich deutlich, dass zu Beginn der Auseinandersetzung nicht Jytte, sondern Ayla die Kontrahentin von Eileen gewesen war. Eileen und Ayla sind nämlich beide in Jo verliebt. Ayla hatte am Vortag das Bild eines Paares Schuhe an Eileen gepostet, die darin die Schuhe von Jo erkannte. Sie interpretierte das so, dass Ayla dadurch einen Besitzanspruch auf Jo deutlich machen wollte und stellte sie am nächsten Tag deswegen zur Rede. Danach gingen beide aufeinander los.
Als deutlich wurde, dass es um Jo ging, rannten drei der zuschauenden Mädchen ohne Ankündigung aus dem Zimmer und kamen kurze Zeit später mit Jo wieder, der sich nun ebenfalls dazu setzte und zu ausführlichen Erklärungen des Sachverhalts ansetzen wollte. Wir baten ihn allerdings zu schweigen und schickten nun alle Kinder hinaus, so dass nur Eileen und Ayla zurückblieben.
Wir forderten die Beiden auf, ihre jeweils der anderen gegenüber abgewandte Körperhaltung zu verlassen und sich gegenseitig anzusehen. Nun erklärte Ayla ausführlich, dass sie gar nicht wusste, dass Jo diese Schuhe besäße. Sie hätte sie nur deswegen geschickt, weil sie so schön seien. Sie hätte dann ja auch noch andere Schuhe gepostet. Eileen hörte aufmerksam zu, ging aber gar nicht auf das Thema Schuhe ein, sondern betonte ausdrücklich, dass sie Jo liebe und er nicht Ayla gehöre.
Es ergab sich eine unerwartete Wendung. Ayla erklärte, sie hätte sich nun überlegt, dass sie Jo doch nicht mehr liebe und dass Eileen ihn haben könne. Außerdem wolle sie sich dafür entschuldigen, dass sie so beleidigend gewesen sei. Sie streckte Eileen die Hand hin, die auch von dieser ergriffen wurde. Danach standen beide auf und umarmten sich.
Sie wollten ohne Abschied hinausstürmen, wir aber hielten sie zurück und fragten, wie das nun mit dem Streit unter den anderen weiter gehen solle. Sie meinten, sie würden das den anderen erklären und verschwanden.
4. Gespräch
Nach Anmeldung durch die Lehrerin erschienen 14 Tage später Eileen und Jo erneut, die beide versicherten, freiwillig zu kommen.
Der Anlass dafür, dass beide zu uns geschickt wurden, war, dass sie sich während des Unterrichts lautstark beschimpften und beleidigten. Eileen berichtet, dass Jo sie ausgelacht habe, als sie etwas nicht wusste. Sie habe ihn daraufhin einen Blödmann genannt, was zu einer Eskalation der Beschimpfungen geführt hatte.
Im Gespräch wurde deutlich, dass sie zwar beide befreundet waren, Jo aber anderen Mädchen zuviel Aufmerksamkeit schenkte, was bei Eileen zu Eifersucht geführt hatte. Sie reagierte, indem sie sich ebenfalls anderen Jungen zuwandte und damit die Eifersucht von Jo anfachte.
Jo verlangt jetzt von Eileen, dass sie keinen Körperkontakt mit anderen Jungen hat, was für sie schwierig sei, da sie sowohl tanzt als auch Fußball spielt und dabei Berührungen kaum zu vermeiden sind. Sie hat sich auch schon bei Jo dafür entschuldigt; Jo aber akzeptiert die Entschuldigung nicht und besteht auf seiner Meinung, Eileen müsse jeden Kontakt mit anderen Jungen vermeiden.
Beide verhalten sich zunächst im Gespräch recht albern. Als sie aber merken, dass wir ihr Problem ernst nehmen, werden sie auch zunehmend ernsthaft. Eileen wirkt zerknirscht, auch traurig. Jo, der das offenbar wahrnimmt, scheint sich überlegen zu fühlen und wiederholt seine Forderungen. Er wirkt, als hätte er es darauf abgesehen, Eileen zu bestrafen und von ihr als überlegen akzeptiert zu werden.
Wir fordern Beide auf, deutlich zu sagen, was sie sich voneinander wünschen. Eileen macht deutlich, sie wolle von Jo mit den aufgrund ihres Sports nicht vermeidbaren Kontakten mit Jungen akzeptiert werden. Jo besteht darauf, sie solle solchen Kontakt vermeiden.
Wir ermuntern beide, sich nicht gegenseitig zu ärgern und zu beschimpfen, sondern miteinander zu reden und auszuloten, ob sie sich gegenseitig vertrauen können.
Sie wirken nach dem Gespräch locker, albern nicht mehr, loben uns sogar dafür, dass wir sie angehört haben. Sie werden herausfinden müssen, wie ihre Beziehung in Zukunft gestaltet werden soll.
(Anmerkung: Vier Wochen später berichtet Eileen während eines kurzen Kontaktes auf dem Schulhof, sie habe nun doch Ayla gesagt, sie könne Jo wieder haben. Ayla hat aber inzwischen einen anderen Freund.)