Artikel in der FAZ (März 2022)
Interview mit Ernst Kucharczyk

Raufbold, heute Mediator
Von Florentine Fritzen
Als Grundschüler nahm Ernst Kucharczyk seine Klassenkameraden schon einmal in den Schwitzkasten, inzwischen vermittelt er Schülern gewaltfreie Kommunikation. Zwischen dem Raufbold von einst und dem Schulmediator von heute liegen ein Berufsleben als Bereichsleiter einer Bank und der Entschluss, als Pensionär nicht bloß einkaufen zu gehen. Kucharczyk erzählt davon in einem Café am Riedberg. Er und seine Frau wohnen nicht weit von dort.
Genau zur rechten Zeit stieß der inzwischen 72 Jahre alte Mann 2015 auf einen Verein, der ein anspruchsvolles Ehrenamt versprach: einmal in der Woche an einer Schule für Kinder da zu sein, die Probleme haben. „Oft sind das Kleinigkeiten, die für Kinder keine Kleinigkeiten sind“, berichtet Kucharczyk. Zum Beispiel, wenn einer nicht die Regeln beim Fußball akzeptiert. Wenn ein Kind traurig ist, weil ein anderes nicht mehr mit ihm spielt. „Es geht viel um Freundschaft – und um Ausgrenzung.“
Um mit Kindern darüber sprechen zu können, musste er bei „Seniorpartner in School“ eintreten und eine Ausbildung machen. Dabei lernte er zehn Tage lang von Profis, wie sich Kinder dabei unterstützen lassen, Konflikte eigenständig beizulegen. Die Senioren berieten nicht, therapierten nicht, sondern nähmen sich Zeit, mit den Kindern zu sprechen und nachzufragen, meint Kucharczyk. „Die Kinder finden die Lösung.“ Den Kurs zahlte der gemeinnützige Verein, der sich über Spenden und Sponsoren finanziert. Als Kucharczyk anfing, war der hessische Landesverband vor allem in Marburg und Gießen aktiv. „Ich bekam die Aufgabe, das in Frankfurt aufzubauen.“ Also suchte und fand er etwa 25 Mitstreiter, führte Gespräche an fast 30 Schulen. Bald gab es Mediatoren an rund zehn Schulen in der Stadt, vor allem Grundschulen. Er selbst ging fortan einmal in der Woche an eine Integrierte Gesamtschule, immer von 9 bis 13 Uhr und mit derselben Kollegin. In den Pausen stand er auf dem Hof, um sichtbar und ansprechbar zu sein. Zuvor hatten sich die „Seniorpartner“ den Klassen vorgestellt. Manchmal kamen so viele, allein oder in Gruppen, dass sie Termine vergeben mussten. Bei Streitereien seien mehr als fünf Kinder im Raum oft zu viele. „Wir versuchen, es in Bahnen zu halten.“
An manchen Tagen wollte niemand mit den Senioren reden. „Dann muss das Team die Zeit nutzen“, sagt der siebenfache Großvater, der sich auch im Vereinsvorstand engagiert. Nächste Woche fährt er zur Bundesversammlung nach Berlin.
Im Frühjahr 2020 kam Corona. Eine Zäsur, wie Kucharczyk sagt. Die Schulen waren vorsichtig, viele stellten das Angebot ein. Manche boten den Senioren nach einer Weile Plexiglaswände und Tests an. „Wir sind alle geboostert“, sagt der Schulmediator. Aber jeder müsse selbst gemeinsam mit der Schule entscheiden, ob und wann es wieder losgehen solle. Etwa acht Mediatoren gingen wieder an Schulen. Andere seien krank geworden, hätten aufgehört. Für die nächste Ausbildung von Mai an haben sich fünf Interessierte angemeldet, zehn Plätze sind noch frei.
Grundsätzlich gelte: Was die Kinder den Mediatoren erzählen, geht Lehrer und Eltern nichts an. Ist das Kindeswohl gefährdet, übersteigt das aber die Kompetenz. Einmal vertraute sich eine Schülerin Kucharczyk an: Die Eltern wollten nicht, dass sie sich Hilfe für ihre massiven psychischen Probleme suche. Mit dem Einverständnis des Mädchens wandte der Mediator sich an eine Lehrerin. „Inzwischen hatte die Schülerin eine Therapie.“
Er und seine Kollegin wollen nach den Osterferien wieder loslegen, am liebsten wieder an der Integrierten Gesamtschule. Kucharczyk erwartet, dass die „empathischen Einzelgespräche“, wie das beim Verein heißt, dann besonders wichtig sein werden, vielleicht sogar wichtiger als die Pausenhofstreitereien. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Viele Kinder haben seit dem Überfall auf die Ukraine zudem eine neue Angst: die Angst vor Krieg.